Anmerkungen zur «Behördenverbindlichkeit» an vier ...
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Öffentliches Recht

Anmerkungen zur «Behördenverbindlichkeit» an vier Beispielen

Die Behördenverbindlichkeit ist eine glitschige Rechtsfigur[1]. Eine recht farbige Umschreibung liefert Thomas Fleiner[2]:

«Verwaltungsverordnungen sind Weisungen vorgesetzter Instanzen an ihre Untergebenen über die Art und Weise wie Zuständigkeiten der Verwaltung auszufüllen sind. Derartige Weisungen haben generell-abstrakten Charakter, richten sich aber nur an die internen Instanzen. Diese Verwaltungsanweisungen haben sicher nicht die gleiche Geltungskraft wie die Verordnungen im eigentlichen Sinne. Faktisch kommt ihnen aber eine überaus entscheidende Bedeutung zu. Die unterstellten Verwaltungsorgane werden sich nämlich an die ihnen von der übergeordneten Instanz vorgegebenen Weisungen halten. Die Weisungen sind nicht publiziert, der Betroffene weiss oft davon nichts. Deshalb ist es für ihn oft recht schwierig, den Entscheid begründet anzufechten …»

Ein schöner Teil behördenverbindlicher Anordnungen ist mittlerweile etwas aus dem Geheimbereich der Verwaltung aufgetaucht und mehr oder weniger öffentlich zugänglich. Das gilt insbesondere für hier im Vordergrund stehende behördenverbindliche Anordnungen aus dem Bau- und Planungsrecht. Der vorliegende Beitrag beleuchtet nach Begrifflichem (Ziff. 1) vier Beispiele (Ziff. 2). Es folgt eine kurze Kommentierung (Ziff. 3) und eine Würdigung (Ziff. 4).

1. Begriff

Die «Behördenverbindlichkeit» ist so alt wie die Mehrstufigkeit von Verwaltung und Verwaltungsjustiz.

a) Das positive (also insbesondere gesetzte) Recht ist häufig unbestimmt und muss über Auslegung und pflichtgemässes Ermessen der Anwendenden im Einzelfall konkretisiert werden.

Mit behördenverbindlichen Weisungen oder Mustern kann zum Beispiel angestrebt werden, die Rechtsanwendung einheitlich, nachvollziehbar und damit auch voraussehbar zu machen.

b) Auch das Bundesrecht kennt die Behördenverbindlichkeit. Erwähnt seien der

  • Richtplan nach dem Raumplanungsgesetz[3] und die
  • Massnahmenpläne bei Luftverunreinigungen gemäss Umweltschutzgesetz[4].

Beide sind ausdrücklich «für die Behörden verbindlich»[5].

c) Behördenverbindliche Anordnungen sind höchstens «halbes» Recht. Zum «ganzen» Recht fehlt es an der Fähigkeit, direkt Grundlage für Eingriffe bei Privaten zu sein.

So unterscheidet USG Art. 44 a «... Massnahmen, die unmittelbar angeordnet werden können, und solche, für welche die rechtlichen Grundlagen noch zu schaffen sind.» Der Richtplan kann nicht wie ein Rechtssatz und auch nicht wie eine Verfügung wirken[6]. Nach einhelliger Lehre und Rechtssprechung bindet der Massnahmenplan als solcher nur Behörden, nicht aber Private; insofern lässt er sich mit einem Richtplan vergleichen[7].

2. Beispiele

a) Beispiel 1: SFG-Richtplan

Gestützt auf das kurz zuvor in Kraft getretene See- und Flussufergesetz SFG[8] des Kantons Bern erliess der Regierungsrat im September 1985 den kantonalen Richtplan für das Teilgebiet Biel Seeland (sog. SFG-Richtplan) mit grundsätzlicher Wegführung längs dem Ufer.

Davon betroffen war auch das Gemeindegebiet von Sutz-Lattrigen am Bielersee. Sie wehrte sich mit staatsrechtlicher Beschwerde beim Bundesgericht und berief sich auf die Gemeindeautonomie. Die Beschwerde wurde im wesentlichen abgewiesen[9]. Der Kanton wurde damit in seiner Absicht bestätigt, die von der Gemeinde zu erarbeitende Uferschutzplanung grundsätzlich nur zu genehmigen, wenn sie den Vorgaben des Richtplanes folgt.

Nicht besser ging es einer Grundeigentümerin in der Gemeinde Twann, führte doch hier das Verwaltungsgericht aus[10]:

«Der vom Regierungsrat erlassene Richtplan ist wegleitend für die Ausarbeitung und Koordination der Uferschutzpläne … Richtpläne binden auch den Souverän, wenn er als Planungsorgan Entscheide trifft oder über raumwirksame Tätigkeiten beschliesst  …»

b) Beispiel 2: Interkommunaler Richtplan, Fall Parlament von Ostermundigen

Im Rahmen der vom Kanton geförderten Entwicklungsschwerpunkte ESP erarbeiteten die Gemeinderäte von Ostermundigen, Ittigen und Bern einen Richtplan zum Entwicklungsschwerpunkt ESP Bern-Wankdorf. Darin wurden auf der verbindlichsten Stufe der «Festlegung» sog. Parkplatz-Ergänzungsstandorte ausgeschieden, davon einer im «Mösli», Ostermundigen.

Der Grosse Gemeinderat (Parlament) von Ostermundigen fühlte sich bei der von ihm zu erlassenden Verkehrs-Richtplanung an diese Vorgabe nicht gebunden und hob den «Parkplatz-Ergänzungsstandort» auf, bzw. beachtete ihn nicht.

Das kantonale Amt für Gemeinden und Raumordnung verweigerte dieser Verkehrs-Richtplanung im «Mösli» die Genehmigung. Das Parlament von Ostermundigen erhob Beschwerde bei der übergeordneten Justiz- Gemeinde- und Kirchendirektion JGK. Es wurde abgewiesen[11]. Weil es sich um einen interkommunalen Richtplan handelt, ist das Parlament an den Richtplan zum ESP Bern-Wankdorf gebunden und kann sich nicht darüber hinwegsetzen.

c) Beispiel 3: Inventar der Denkmalpflege

Über entsprechende Revisionen der Baugesetzgebung[12] und des kantonalen Denkmalpflegegesetzes[13] werden Objekte, die sich für die beiden Schutzkategorien «erhaltenswert» oder «schützenswert» eignen, in ein Inventar aufgenommen. Mit dieser Aufnahme sind Wirkungen verbunden, die sich auf Abbruch- oder Änderungsgesuche auswirken können[14]. Die Aufnahme in diese Inventare erfolgt eigenartig: Die betroffenen Eigentümerschaften haben nur beschränkte Mitwirkungsmöglichkeit. Insbesondere kann in einer allfälligen Beschwerde nur gerügt werden, das in Entstehung begriffene Inventar sei unvollständig[15].

Das Inventar ist lediglich behördenverbindlich[16].

Im Zuge der Revision änderte der Grosse Rat am 6. September 2000 auch das Baubewilligungsdekret[17]: Dessen Art. 4 Abs. 2 statuiert neu eine (sonst nicht bestehende) Baubewilligungspflicht für

  • «die Änderung von inneren Bauteilen, Raumstrukturen und festen Ausstattungen in schützenswerten Baudenkmälern» (lit. b) und
  • «die Änderung von Raumstrukturen in erhaltenswerten Baudenkmälern» (lit. c).

In einem neueren Entscheid folgert die Bau-, Verkehrs- und Energiedirektion BVE des Kantons Bern[18], 

«dass es für die Bejahung der Baubewilligungspflicht von Umgebungsänderungen genügt, wenn das Gebäude als Baudenkmal ins Bauinventar aufgenommen ist; dass diese Aufnahme zurecht erfolgte, braucht noch nicht erwiesen zu sein.»[19]

d) Beispiel 4: «Fahrten» im Kanton Bern (BauV Art. 53 Abs. 4[20])

Die am 1. März 2000 in Kraft getretene Revision der kantonalen Bauverordnung betreffend Autoabstellplätze brachte für den «Normalfall» gegenüber früher eine wesentliche Vereinfachung und Verbesserung der Rechtssicherheit. Bei «grossen Vorhaben» legt Art. 53 als sog. Grundbedarf ein Maximum von 125 in Städten und Agglomerationen bzw. von 165 Parkplätzen im übrigen Kanton fest und führt in Abs. 4 aus:

«Zusätzliche Abstellplätze zum Grundbedarf werden bewilligt, wenn auf Grund der zu erwartenden Fahrten dargestellt wird, dass die Vorschriften der Umweltschutzgesetzgebung eingehalten werden.»

Auf rechtlicher Ebene ist im Kanton Bern nirgends ersichtlich, um was es bei diesen Fahrten geht. Hinweise darauf finden sich etwa im kantonalen Massnahmenplan zur Luftreinhaltung[21] in den Massnahmenblättern P1 und P2 auf Seiten 69 ff, wo das «Fahrleistungsmodell» dem Grundsatze nach umschrieben wird.

3. Kommentar zu den Beispielen

a) Beispiel 1: SFG-Richtplan

Der kantonale Richtplan beschränkt mit seiner Behördenverbindlichkeit die Gemeindebehörden bis hinauf zur Gemeindeversammlung. Der Richtplan kann mithin hierarchische, ja geradezu «diktatorische» Züge annehmen.

Derartige Behördenverbindlichkeit hat zumindest indirekt Auswirkungen auch auf Private. Treffend umschrieben wird diese indirekte Wirkung in einem Gutachten vom 10. Juli 2002[22]:

«Richtpläne binden private Grundeigentümer (...) grundsätzlich nicht. Selbst wenn der Richtplan die spätere Nutzungsplanung weit gehend präjudiziert, kann er durch Private nicht direkt angefochten werden.»

Ein deutliches Beispiel dieser «umfassenden» Behördenverbindlichkeit bietet ein Bundesgerichtsurteil vom 22. Juli 1999. Es führt hier in E.6 lit. a aus[23]:

«Da die Erteilung einer gewöhnlichen Baubewilligung keine Bundesaufgabe i.S. von Art. 6 Abs. 2 NHG[24] darstellt, sind das ISOS[25] und die damit verbundenen Schutzziele nicht unmittelbar verbindlich. Das ISOS ist indessen im kantonalen Richtplan ausdrücklich als Grundlageninformation mit empfehlendem Charakter bezeichnet. Das ISOS gilt daher für die Behörden von Kanton und Gemeinden zumindest als Empfehlung; es ist bei der Bewilligung des geplanten Projektes zu berücksichtigen.»

Das Inventar mit Verbindlichkeit für die Bundesbehörden gilt über entsprechenden Verweis im kantonalen Richtplan nun auch für die Behörden von Kanton und Gemeinden. Die damit gescheiterte Baugesuchstellerschaft kann wohl nur schwierig getröstet werden mit dem Hinweis, dass die zum Bauabschlag führenden Grundlagen nur behördenverbindlich sind.

b) Beispiel 2: Interkommunaler Richtplan

Die «diktatorischen» Züge der Behördenverbindlichkeit treten hier umso mehr in Erscheinung, als das Parlament an entsprechende Handlungen des Gemeinderates gebunden ist. Was rechtlich plausibel und konsequent ist, wird politisch nur noch schlecht verstanden.

Diese Wirkung der Behördenverbindlichkeit hält sich wohl noch im hierzu gedachten Rahmen.

c) Beispiel 3: Inventar der Denkmalpflege

Die Frage nach der Baubewilligungspflicht eines Vorhabens ist offensichtlich für Private relevant. Vorliegend kommt noch dazu, dass BewD Art. 4 Abs. 2 ohne Zwang auch rechtskonform ausgelegt werden kann: Seine Umschreibung der schützens- oder erhaltenswerten Baudenkmäler kann nur grundeigentümerverbindliche Festlegungen betreffen, also solche, die zum Beispiel über einen Nutzungsplan (baurechtliche Grundordnung, Überbauungsordnung etc.) demokratisch und rechtlich festgelegt sind. Die betroffenen Eigentümer können sich im Rahmen der Nutzungsplanung gegen eine derartige Festlegung wehren. Die Ausdehnung der Baubewilligungspflicht allein über ein behördenverbindliches Inventar überdehnt dessen Wirkung, sie ist nicht zulässig.

d) Beispiel 4 «Fahrten» im Kanton Bern

Das Recht hört bei 125 bzw. 165 Parkplätzen schlicht auf. Insbesondere in Fällen, wo für ein Vorhaben wegen eines Nutzungsplanverfahrens (noch) keine Umweltverträglichkeitsprüfung erforderlich sind, «prallt» der/die Private mit seinem/ihrem Vorhaben direkt in den lediglich behördenverbindlichen Bereich, mit anderen Worten: Hier soll die Behördenverbindlichkeit direkt auch Privaten gegenüber anwendbar sein. Dieses Resultat ist wohl grundsätzlich unzulässig. Dazu kommt, dass die rechtliche Grundlage für einen derartigen «Verweis» vorliegend nur Vollzugsrecht (Verordnung des Regierungsrates) ist. Schliesslich schreibt das Bundesrecht die Umweltverträglichkeitsprüfung erst bei Parkhäusern oder Plätzen für mehr als 300 Motorwagen vor[26].

Dieses Resultat führt zur direkt grundeigentümerverbindlichen Wirkung von behördenverbindlichen Anordnungen. Das «halbe» Recht bekommt volle Wirkung. Ohne entsprechendes, demokratisches bzw. rechtsstaatliches Verfahren kommt es damit zu einer unzulässigen Überdehnung.

4. Würdigung:

Die Behördenverbindlichkeit ist eine etablierte und zum Teil auch gesetzlich geregelte Rechtsfigur. Gerade im Bau- und Planungsrecht mit seinen über einzelne Verwaltungssprengel hinausreichenden Wirkungen ist dieses Instrument zur Koordination unabdingbar und unbestritten. Die Behördenverbindlichkeit verleitet mitunter dazu, deren Rahmen zu überdehnen und Vorstellungen oder Modellen die Wirkung von echten Rechtsgrundlagen zukommen zu lassen, die sie eben nicht haben dürfen. Die «Härtung» derartiger Modelle bis hin zu richtigen gesetzlichen Grundlagen ist verbunden ist mit einer Exposition im politischen Wind der Demokratie bzw. der Politik. Gerade dieser Wind kann neue Konzepte und Ideen zum scheitern bringen, wie dies am Beispiel der «Fahrten» für die Kantone BE, SG, BS / BL und ZG dokumentiert ist[27].

Soweit für behördenverbindliche Massnahmen die Rechtsgrundlage fehlt, ist sie vor Anwendung auf Private zu schaffen, wie dies in USG Art. 44a ausdrücklich vorgesehen ist (Ziff. 1 lit. c hievor).

Fussnoten

  1. K(l)eine Festschrift für Pierre Tercier (Peter Gauch und Pascal Pichonnaz, Hrsg) Zürich 2003.

  2. Grundzüge des allgemeinen und schweizerischen Verwaltungsrechts, Zürich 1977, Seite 76.

  3. Bundesgesetz über die Raumplanung RPG (SR 700), Art. 9.

  4. Bundesgesetz über den Umweltschutz USG (SR 814.01), Art. 44a.

  5. In RPG Art. 9 steht diese Wirkung allgemein, in USG Art. 44 a wird präzisiert für die Behörden, «die von den Kantonen mit Vollzugsaufgaben betraut sind.»

  6. Pierre Tschannen in Aemmisegger etc., Kommentar zum Raumplanungsgesetz, Zürich 1999, N10 zu RPG Art. 9.

  7. Loretan in Kommentar zum USG, Zürich - Basel - Genf 2002, N 58 zu USG Art. 44 a.

  8. BSG 704.1.

  9. BGE 17.12.1986, in BVR 1987, Seite 165 ff.

  10. VGE 19832 vom 22. Mai 1997 in BVR 1998, Seite 250 ff, E.3 lit. a auf Seite 255.

  11. Entscheid JGK 32.14 – 01.50 TSC vom 3. September 2001.

  12. BauG Art. 10a ff und Bauverordnung BauV (BSG 721.1), Art. 13a ff.

  13. Gesetz über die Denkmalpflege DPG (BSG 426.41), Art. 10.

  14. BauG Art. 10e i.V.m. Art. 10b.

  15. BauV, Art. 13a Abs. 4.

  16. Vortrag des Regierungsrates zum DPG, Beilage 12 zum Tagblatt des Grossen Rates 1999, Ziff. 2.2 Seite 5: «…in das Bauinventar, das verwaltungsanweisend ist und die Eigentümerinnen und Eigentümer nicht bindet, ...»

  17. Dekret über das Baubewilligungsverfahren BewD (BSG 725.1).

  18. Entscheid BVE RA 120 / 2003 / 25 vom 15. Oktober 2003, publiziert in BVR 2004, Seite 424 ff.

  19. E.3 lit. b (in BVR 2004 auf Seite 426) Seite 6.

  20. Bauverordnung, vgl. Fussnote 12.

  21. www.vol.be.ch/beco/umwelt/documents/mpl_d.pdf (besucht am 31. Mai 2004).

  22. Verein Region Bern (VRB): Befugnis vereinsrechtlich organisierter Planungsregionen zum Erlass regionaler Richtpläne von Dr. Ueli Friedrich, Dr. Karl Ludwig Fahrländer und Ursula Boos, abrufbar unter www.jgk.be.ch/agr/d/raumplanung … (besucht am 13. September 2004).

  23. BGE 1P.185 / 1999 und 1P.193 / 1999 vom 22. Juli 1999, wiedergegeben in URP 1999, Heft 9, Seite 794 ff, E.6 lit. a.

  24. Bundesgesetz über den Natur- und Heimatschutz NHG (SR 451).

  25. Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder von nationaler Bedeutung gemäss Verordnung über das Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz VISOS (SR 451.12) die sich ihrerseits auf NHG Art. 5 stützt.

  26. Verordnung über die Umweltverträglichkeitsprüfung UVPV (SR 814.011), Ziff. 11.4 des Anhanges.

  27. «Diskussionspapier» von Fürsprecher Dr. Karl Ludwig Fahrländer und Rudolf Muggli an den Kantona Bern (beco) vom 19. April 2004. Dieses Gutachten bewirkte im Übrigen auch die Aufhebung der Bewirtschaftung von Parkplätzen ab der ersten Minute im Fall Coop Belp gemäss Entscheid Regierungsstatthalter Seftigen vom 19. Juli 2004.

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