Privatrecht
Recht haben und Recht erhalten gelten von alters her als zwei Paar Schuhe. Die in der Gerichtspraxis entwickelte Substantiierungspflicht gilt als eigenständiges Kriterium für die Gutheissung einer Klage. Die Anforderungen werden damit erhöht, Recht erhalten wird zunehmend aufwendig und teuer.
In einer bernischen Fachzeitschrift für Juristen[1] ist dazu aus der Feder eines Ordinarius für schweizerisches und internationales Zivilverfahrensrecht[2] Folgendes zu lesen: «Behauptet der Bauherr im Prozess gegen den Unternehmer (…), die Lüftung des Hauses sei mangelhaft, so hat er den Mangel bei Bestreitung durch den Unternehmer zu substantiieren. (…) Besteht der Mangel beispielsweise darin, dass die Luft im Zimmer trotz Lüftung stickig ist, so hat der Kläger konkret darzulegen, dass die Lüftung (…) den erforderlichen Luftumsatz von 45 m3/h nicht erreicht, und für diese Behauptung den Beweis zu offerieren, etwa ein Gutachten.» Was bedeutet dies für die Einleitung eines Gerichtsverfahrens wegen Mängel einer Baute?
Zunächst greift diese Sichtweise zu kurz. Soll die Substantiierung derart detailliert erfolgen wie im angesprochenen Referat dargestellt, hätte der Bauherr in diesem Beispiel zu behaupten, 1) die nach Vertrag geschuldete Leistung der Lüftung bestehe in einem Luftumsatz von 45 m3/h, 2) der effektive Luftumsatz erreiche diesen Wert nicht und 3) die stickige Luft sei Folge des ungenügenden Luftumsatzes. Erst diese Argumentation erlaubt es dem Gericht, 1) das Vorliegen eines Mangels zu bejahen und 2) die Kausalität von Ursache (ungenügende Luftumwälzung) und Folge (stickige Luft) als gegeben zu beurteilen. Allerdings kehrt diese einer typischen Sicht aus der Retroperspektive entsprechende Betrachtung die in der Praxis anzutreffende Realität um. Der Bauherr stellt die stickige Luft fest und rügt diese als Mangel. Zum Nachweis des Mangels wird er die Luftqualität überprüfen lassen, um festzustellen, welche chemischen Stoffe in der Raumluft vorhanden sind. Lassen sich die Gesundheit oder die Behaglichkeit beeinträchtigende Stoffe feststellen (z.B. Formaldehyd oder aus Räuchereichenparkett austretendes Ammoniak), ist der Mangel nachgewiesen. Gleiches gilt, wenn die Messung einen CO2-Wert nachweist, welcher Kopfschmerzen auslöst, oder wenn übermässige Feuchtigkeit in der Zimmerluft vorherrscht. Der Rechtsnatur als Kausalhaftung entsprechend reichen solche Erkenntnisse aus, um die Gewährleistung auszulösen. Im Generalunternehmerwerkvertrag wird der Generalunternehmer vorbehaltlich entsprechender Ausgestaltung des Baubeschriebs mit dieser Begründung nachbesserungspflichtig, weiterer Behauptungen und Substantiierung bedarf es dazu nicht.
Wird anstelle eines Generalunternehmervertrages pro Gewerk ein separater Werkvertrag abgeschlossen, hat der Kläger zusätzlich darzutun, weshalb die Nachbesserung in den Verantwortungsbereich der ins Recht gefassten Planer oder Unternehmer fällt. Zunächst rügt ein Bauherr den Mangel «stickige Luft», nicht dessen Ursache. Kommen mehrere Baubeteiligte als Verantwortliche hierfür infrage, ist die Ursache zu ermitteln. Steht diese fest und liegt sie in der Planung oder Erstellung der Lüftung, trifft die entsprechenden Fachingenieure und/oder Unternehmer eine Nachbesserungspflicht. Entspricht die installierte Leistung allerdings den Berechnungen des Fachingenieurs, ist der Unternehmer entlastet. Hat die stickige Luft eine andere Ursache, beispielsweise eine bestimmte Emissionsquelle, richtet sich die Nachbesserungspflicht gegen andere. In der Klage sind daher die Umstände darzulegen, weshalb die Nachbesserung in den Verantwortungsbereich der ins Recht gefassten Planer und Unternehmer fällt. Das ist indessen nicht eine Frage der Substantiierungspflicht, sondern Ausfluss des materiellen Rechts und der Beweislast. Im einleitend zitierten Beispiel wird stillschweigend vorausgesetzt, dass die Ursache der stickigen Luft in einer ungenügenden Lüftungsleistung liegt. «Stillschweigend voraussetzen» bedeutet nach Auffassung jenes Autors aber: nicht hinreichend substantiieren. Damit stolpert er selbst über die Substantiierungslast und sein Beispiel genügt nicht einmal der auf materielles Recht gestützten Behauptungslast.
Die Substantiierungspflicht wird namentlich da zum Problem, wo sich der klagende Bauherr unter Verwirkungsfolge entschliessen muss, welchen von mehreren möglichen technischen Zusammenhängen er zum Nachweis des Mangels seiner Klage zugrunde legen soll. Das einleitend erwähnte Beispiel geht von einer Konstellation aus, bei welcher eine Ursache einer Folge gegenübersteht, und bezeichnet die Ursache als den eigentlichen Mangel. Diese Vorstellung entspricht nicht dem Normalfall. Ein monokausaler Verlauf eines Schadenfalles ist nach der Praxiserfahrung eher selten und als zu behebender Mangel wird kaum je die eigentliche Ursache gerügt. Der Mangel liegt im zitierten Beispiel in der ungenügenden Qualität der Raumluft.
Unter Berufung auf die Substantiierungspflicht verlangen die Gerichte vom Kläger eine Darstellung des Sachverhaltes mit detaillierter Darlegung aller Einzelheiten, sodass darüber Beweis abgenommen werden kann.[3] Hinter dieser Formel verbirgt sich die Unwägbarkeit, dass im Zeitpunkt der Klageanhebung das Beweisergebnis keineswegs feststeht. Die Klage derart präzise, mithin substantiiert abfassen, sodass das Beweisverfahren sich nur noch mit der Frage auseinanderzusetzen hat, ob die einzelnen Behauptungen zutreffen, kann nur, wer das Beweisergebnis zumindest in den Grundzügen bereits kennt. Ob neben der nicht hinreichenden Leistung der Lüftung auch andere Ursachen für die ungenügende Qualität der Raumluft verantwortlich sind, ergibt erst das Beweisverfahren. Welche Argumente und Behauptungen am Schluss den Ausschlag geben, lässt sich zu Beginn des Verfahrens selten abschätzen. Der tiefere Sinn der Maxime audiatur et altera pars liegt in der Erkenntnis, dass die Darstellung einer Partei notgedrungen einseitig ist. Verlangt aber die Substantiierung, dass alle objektiv möglicherweise relevanten Sachverhaltselemente vollständig in die Rechtsschriften einfliessen, müsste die klagende Partei über das Wissen verfügen, welches das Gericht nach abgeschlossenem Schriftenwechsel, Anhörung beider Parteien und durchgeführtem Beweisverfahren hat. Das ist eine Illusion.
Der Zivilprozess dient der Durchsetzung des materiellen Rechts, der Durchsetzung der im Privatrecht begründeten subjektiven Rechte. Das Zivilprozessrecht hat daher im Verhältnis zum materiellen Recht eine dienende Funktion.[4] Der Bauherr hat Anspruch auf ein mängelfreies Werk. Allein die im Bereich Energie/Umwelt zu beachtenden Normen weisen eine derart hohe technische Komplexität auf, dass der Laie keine Chance hat, dem Diskurs der Fachleute zu folgen. Zuweilen durchschaut nicht einmal der Fachmann die Interdependenz der haustechnischen Systeme und der bauphysikalischen Zusammenhänge. Vom klagenden Bauherrn zu verlangen, er müsse dem Gericht schlüssig sämtliche potenziell relevanten Elemente des Schadenfalles abschliessend und vollständig vortragen, verträgt sich nicht mit der dienenden Funktion des Prozessrechts. Folge ungenügender Substantiierung ist die Abweisung der Klage ohne Abnahme der angebotenen Beweise, womit der Gewährleistungsanspruch zufolge der Rechtskraft des Urteils definitiv untergeht, bevor über Mangel und Ursache überhaupt Beweis geführt wurde.[5] Das Prozessrecht vereitelt so die Durchsetzung des materiellen Rechts.
Für den Bauherrn heisst dies, Mangel und Ursache müssen vor der Prozesseinleitung mit allen Eventualitäten zweifelsfrei eruiert und in beweisbarer Weise beschrieben werden, damit eine Klage überhaupt ins Auge gefasst werden kann. Als Mittel zur Sachverhaltsklärung vor Prozesseinleitung stehen bei einvernehmlicher Einsetzung das Gutachten oder das Schiedsgutachten zur Verfügung. Fehlt es am Einvernehmen, kann das gerichtliche Verfahren der vorsorglichen Beweisführung in Anspruch genommen werden. Eventuell kann auch eine reine Parteiexpertise zielführend sein. Hinreichende Substantiierung im vorbeschriebenen Sinn ist ohne solche Vorabklärung nicht denkbar. Damit schiesst der Bauherr die Kosten für zwei aufwendige Beweisverfahren vor, nämlich für jenes vorgängig der Prozesseinleitung und für jenes im Prozess.
Erhebliche praktische Schwierigkeiten entstehen, wenn (auch) die Verantwortlichkeit von Planern zur Disposition steht, was in der Mehrheit der Streitigkeiten der Fall sein dürfte. Die im Auftrag des Bauherrn tätigen Planer wären an sich erste Anlaufstelle beim Suchen von Ursachen von gerügten Mängeln. Unterstützen sie den Bauherrn in dieser Arbeit nicht, ist er auf externe Hilfe angewiesen. Dabei wird diese Hilfe kaum von einem als Experten eingesetzten Fachmann erfolgen können. Bereits zur Einsetzung eines Gutachters benötigt der Bauherr nämlich Fachwissen, über welches Otto Normalverbraucher üblicherweise nicht verfügt. Damit hat er im Ergebnis ein dreistufiges Verfahren zu durchlaufen, nämlich 1) Analyse und Beurteilung im Hinblick auf eine oder mehrere Expertisen, 2) die Begutachtung durch den Experten und 3) die Beweisführung im Prozess.
Sodann stellt sich die Frage, wie mit einem Fall umzugehen ist, in welchem sich die Experten nicht einig sind. Verfasst der Bauherr die Klage aufgrund einer Expertise, deren Ergebnis vom späteren Gerichtsexperten nicht geteilt wird, ist die Klage zwar schlüssig und substantiiert, entspricht jedoch nicht dem im Beweisverfahren etablierten Ergebnis. Die Meinung des gerichtlichen Experten kann aber durchaus eine Verantwortung der/des ins Recht gefassten Unternehmer(s) oder Planer(s) mit anderer tatsächlicher Begründung bejahen (sog. überschiessendes Beweisergebnis). Sie wurde jedoch in der Rechtsschrift nicht in substantiierter Weise dargetan. Darf das Gericht die Klage nun aufgrund eines nicht substantiiert behaupteten und begründeten Sachverhaltes gutheissen? Die Frage wird kontrovers diskutiert.[6] Ohne Substantiierungspflicht würde sich die Frage aber gar nicht stellen.
Wird die prozessrechtlich begründete Pflicht zu hinreichender Substantiierung in der beschriebenen Weise gehandhabt, hat dies weitreichende Konsequenzen auf die einer Klageerhebung vorausgehende notwendige Vorbereitung. Aufwendige Sachverhaltsabklärung ist Pflicht. Trotz bestmöglicher Klärung besteht das Risiko nicht hinreichender Substantiierung, wenn die Meinung des ersten Experten im Prozess nicht geschützt wird. Der Aufsatz in der ZBJV schliesst mit dem Hinweis: Die ZPO (…) legt gleichzeitig den Schwerpunkt auf eine gut ausgebildete, sorgfältig arbeitende Anwaltschaft.[7] Der Hinweis geht indes fehl, der Anwalt ist weder Fachingenieur noch Bauphysiker. Trotz schlüssiger substantiierter Darstellung in den Rechtsschriften von bestausgebildeten Anwälten besteht ein schwer kalkulierbares Risiko, an der Substantiierung zu scheitern, wenn in der vorprozessualen Beurteilung ein Element aus der Fülle der technischen Einzelheiten als nicht wesentlich eingestuft und weggelassen wird, dasselbe sich nach Abschluss des Schriftenwechsels jedoch als entscheidend erweist. Bauherr und Erwerber eines Eigenheims zahlen daher einen erhöhten Preis für die aufwendige vorprozessuale Sachverhaltsermittlung und tragen dennoch ein höheres Risiko.
Bislang war der gut ausgebildete, sorgfältig arbeitende Anwalt in der Lage, mit seiner rechtlichen Einschätzung der Streitsache deren Beurteilung zweckmässig vorzuspuren und den Aufwand für Gericht und Klienten zu begrenzen. Heute ist der Anwalt gehalten, Abklärungen und Rechtsschriften stark aufzublähen, um rein vorsorglich jedes im Moment auch noch so unwichtig erscheinende Detail im Gesamtzusammenhang darzustellen. Andernfalls läuft er – respektive der Klient – Gefahr, im Dickicht der Substantiierungspflicht zu stolpern, einen enormen Aufwand berappen zu müssen und schliesslich nicht einmal zum Beweis zugelassen zu werden.
Die ZPO, so der eingangs zitierte Ordinarius für schweizerisches und internationales Zivilverfahrensrecht, gibt (…) dem Anliegen einer geordneten, effizienten Rechtspflege mehr Gewicht als der materiellen Wahrheit. [8] Damit entledigt sich der Staat, der für sich das Monopol in der autoritativen Streiterledigung beansprucht, eines Teils seiner Aufgabe durch Übertragung auf die Parteien. Die Sachverhaltsermittlung, mithin die Wahrheitsfindung, ist indes seit jeher klassische Aufgabe des Gerichts.[9] Die Rolle des Gerichts beschränkt sich entgegen anderslautender Ansicht[10] nicht darauf, die Rechtsnormen auf den behaupteten und festgestellten Sachverhalt zur Anwendung zu bringen (sog. Subsumtion). Ob mit der aktuellen Anwendung von Art. 55 ZPO tatsächlich ein Effizienzgewinn verbunden ist, darf angesichts der regelmässig festzustellenden Aufblähung des Prozessstoffes mit Fug bezweifelt werden. Das Eingeständnis, die Wahrheitsfindung sei zweitrangig, verträgt sich nicht mit der dienenden Funktion des Prozessrechts und schadet der Akzeptanz von Gerichtsurteilen und damit letztlich dem Ansehen der Justiz. Wird zudem in Rechnung gestellt, dass der durchschnittliche Erwerber eines Eigenheims aufgrund dieser Gerichtspraxis im Streitfall Kosten zu übernehmen hat, die er kaum aufzubringen vermag, stellt sich in der Tat die Frage: quo vadis justitia?
Es wäre die Aufgabe der Wissenschaft, hier korrigierend einzugreifen. Die Zitate stammen jedoch aus einem Referat, das vor dem Schweizer Verband der Richter in Handelssachen gehalten wurde. Justiz und Wissenschaft überbieten sich offensichtlich gegenseitig in der Weiterentwicklung der Substantiierungspflicht.
Für den klagenden Bauherrn heisst dies im Schadenfall: Wer anwaltlichen Rat zu spät einholt, wird kaum je Recht erhalten, solange die Gerichte die Substantiierungslast in dieser Weise handhaben. Für die beklagten Parteien anderseits öffnet dies Tür und Tor zur Abwehr von Ansprüchen mit rein theoretischen Begründungen, zu welchen die klagende Partei in ihren Rechtsschriften nicht Stellung genommen hat. Einen Prozess auf Klägerseite zu führen, wird dadurch nicht einfacher.
Fussnoten
ZBJV Heft 4, 2018, S. 280.
Prof. Dr. iur. Alexander R. Markus, Melanie Huber-Lehmann.
Berner Kommentar Schweizerische ZPO, N 25 zu Art. 55.
Oskar Vogel / Karl Spühler, Grundriss des Zivilprozessrechts und des internationalen Zivilprozessrechts in der Schweiz, Bern 2006, S. 36.
Berner Kommentar Schweizerische ZPO, N 28 zu Art. 55.
ZBJV Heft 4, 2018, S. 277.
ZBJV, a.a.O. S. 296.
ZBJV Heft 4, 2018, S. 296.
Max Kummer, Grundriss des Zivilprozessrechts, Bern 1978, S. 10.
ZBJV Heft 4, 2018, S. 271.