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Privatrecht

Des Richters Substantiierungslust ist der Parteien Substantiierungslast

Der Zivilprozess gliedert sich in verschiedene Phasen. Eingeleitet wird er mit dem sog. Behauptungsstadium. Es folgen darauf das Beweis- und das Urteilsstadium. Mit der Eröffnung des Urteils schliesst die Instanz das Verfahren ab. Im Behauptungsstadium sind dem Gericht alle für die Begründung des Anspruchs und für dessen Bestreitung erforderlichen Tatsachen und Beweismittel zu nennen. Zum Behauptungsstadium gehört im ordentlichen Verfahren ein einfacher oder zweifacher Schriftenwechsel. Hier spielt die sog. Substantiierungslast eine wesentliche Rolle.

Worum geht es?

Der Jurist spricht vom rechtsrelevanten Sachverhalt und meint damit diejenigen Tatsachen, welche zur Begründung eines konkreten Anspruches erforderlich und tauglich sind. Was in diesem Sinne relevant ist, muss mit Blick auf die im Einzelfall massgebenden Gesetzesbestimmungen eruiert werden. Daraus ergeben sich die Tatbestandsmerkmale, die in Form von Tatsachenbehauptungen in den Prozess eingebracht werden müssen. Diese Analyse ist Aufgabe des Anwalts, der sich mit dem Anliegen seiner Klienten im Hinblick auf die Anhebung eines Zivilprozesses auseinandersetzt.

Sachbehauptungen

Dem Gericht ist in schlüssiger Weise darzulegen, worum es geht und welche Beweismittel zur Untermauerung der Sachverhaltsbehauptungen zur Verfügung stehen. Die Behauptungen müssen ein vollständiges Bild der Streitsache ergeben. Solange einfache Sachverhalte zur Beurteilung anstehen, ist eine verlässliche Übersicht über den rechtsrelevanten Sachverhalt ohne Weiteres zu erlangen. Abschluss des Kaufvertrages, Übergabe der Kaufsache und Bezahlung des Kaufpreises beispielsweise sind Zusammenhänge, die sich einfach darstellen lassen. Schon aufwendiger wird es, wenn die Kaufsache Mängel aufweist. Was aber gilt bei komplexen Sachverhalten? Fällt eine teilweise fremdfinanzierte Tunnelbohrmaschine über längere Zeit aus als Folge eines Vorfalles aufgrund einer fehlerhaften Beurteilung des Gesteins durch den Geologen und verletzt sich dabei noch ein Angestellter der Tunnelbaufirma und wird invalid, lässt sich unschwer erahnen, wie vielfältig und vielschichtig sich die Beziehungen zwischen Ursache(n) und Folgewirkung(en) gestalten.

Begründung

Behaupten und Begründen heisst in diesem Zusammenhang zunächst, den gesamten Vorfall aufgliedern in viele einzelne Sachverhalte. Für jeden Einzelsachverhalt ist dabei schlüssig, nachvollziehbar und beweisbar darzutun, weshalb er sich in gerade dieser Weise mit gerade diesen (welchen?) Folgen zugetragen hat. Obwohl hier mehrere Geschädigte Ersatz des erlittenen Schadens von unterschiedlichen Haftpflichtigen geltend machen werden (die Tunnelbaufirma vom Geologen, der Arbeitnehmer von der Tunnelbaufirma, der Bauherr vom Tunnelbauer, evtl. gleichzeitig auch vom Geologen etc.), darf daraus nicht geschlossen werden, jede Auseinandersetzung beschränke sich quasi nur auf einen Teilsachverhalt. Handelt es sich beim verunfallten Mitarbeiter um einen erfahrenen Geologen, wird der belangte externe Geologe vermutlich einwenden, dieser hätte, da er direkten Einblick in den Baugrund hatte, den Schaden abwenden können, wenn er seine Verantwortung wahrgenommen, den Ausbruch laufend begutachtet und seine Beobachtungen weitergeleitet hätte. Dringt er damit durch, wird die Tunnelbaufirma als Arbeitgeber im Prozess mit dem verunfallten Mitarbeiter wohl ebenfalls ein Selbstverschulden des Mitarbeiters geltend machen.

Der Faden kann beliebig weitergesponnen werden. Hiermit soll aufgezeigt werden, wie wenig Klarheit im Voraus herrscht in Bezug auf die Abgrenzung, was in einem komplexen Schadenfall zum darzulegenden, rechtsrelevanten Sachverhalt im einzelnen Streitfall gehört. Wo fängt er an, wo hört er auf, wann ist das Bild vollständig? Gleiches gilt natürlich auch ausserhalb des Haftpflichtrechts in anderen komplexen Sachverhalten.

Substantiierung

Mit der Anforderung, einen Sachverhalt in substantiierter Weise darzutun, setzen die Gerichte genau an diesem Punkt an und verlangen eine vollständige Darstellung aller relevanten Einzelmerkmale des Sachverhalts in einem logischen Ablauf inkl. Benennung der Beweismittel. Die Schwierigkeit liegt aber darin, dass sich gerade in komplexen Fällen die letzten Facetten des massgebenden Sachverhalts gelegentlich sogar erst im Rahmen des Beweisverfahrens erschliessen. Wie soll da der Kläger argumentieren, wenn er nicht Fachmann ist? Muss er zuerst eine vorsorgliche Beweisführung anstreben oder ein Gutachten einholen? Ausserdem werden kaum alle Fachleute in vollständiger Harmonie und Übereinstimmung die gleichen Elemente als entscheidend einstufen und sie gleich gewichten. Welcher Fachmeinung ist bei der Ausarbeitung der Klageschrift also zu folgen?

Als konkrete Beispiele werden von den Vertretern von Justiz und Wissenschaft in Referaten nur einfache Sachverhalte angeführt. Dabei wird betont, je komplexer der Sachverhalt und/oder die Rechtslage sei, desto höhere Anforderungen stelle die Substantiierungslast. Damit ist herzlich wenig zu gewinnen.

Risiken

Wer nicht die Übersicht über alle Details und Eventualitäten eines Sachverhaltes hat und all das in den Prozess einbringt, riskiert, über die Substantiierungslust des Gerichts zu stolpern wegen nicht hinreichender Beachtung der Substantiierungslast. Aber wer hat schon zu Beginn der Auseinandersetzung eine abschliessende Übersicht?

Wenig klare Kriterien

Welche Blüten diese Praxis hervorbringt, wird in den beiden weiteren Artikeln anhand von Beispielen aufgezeigt. Dass zu beweisen – und damit zu behaupten – hat, wer Ansprüche geltend macht, ist trivial. Die Substantiierungslast und die Folgen bei deren Nichtbeachtung stellen dagegen Schöpfungen der Praxis dar und sind so von der Zivilprozessordnung nicht vorgesehen. Zuweilen geht die Substantiierungslast so weit, dass nur hinreichend substantiiert ist, was gleichzeitig auch gerade bewiesen wird. Das muss zu denken geben, zumal es offenbar vorkommen kann, dass ein kantonales Gericht den Anspruch als hinreichend substantiiert einschätzt und zu dessen Beurteilung schreitet, während das Bundesgericht den gleichen Anspruch auf der Basis der gleichen Behauptungen und Urkunden als nicht hinreichend substantiiert qualifiziert und die Klage deswegen abweist, wie im Vermögensverwaltungsfall. Die Konturen der ggf. als Killerkriterium eingesetzten Substantiierungslast sind offensichtlich höchst unscharf. Damit wirkt diese Wunderwaffe in für die Parteien unvorhersehbarer Weise.

Rechtssicherheit sieht anders aus. Wem ist damit wohl geholfen?

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