Detaillierungsgrad der Substantiierung
Seitenbeginn

Privatrecht

Detaillierungsgrad der Substantiierung

Die Parteien haben dem Gericht die Tatsachen, auf die sie ihre Begehren stützen, darzulegen und die Beweismittel anzugeben (Art. 55 Abs. 1 ZPO). Was harmlos tönt, wird in der Praxis zur Waffe des Gerichts, um der Aufarbeitung komplexer Sachverhalte zu entgehen unter Hinweis darauf, eine Partei habe ihre Sachverhaltsvorbringen nicht hinreichend substantiiert. Folge davon: Klageabweisung ohne Beweisführung.

Eine römische Rechtsregel besagt: da mihi factum, dabo tibi ius. Zu Deutsch: Gib mir die Tatsache, ich gebe dir das Recht. Damit wird noch heute zum Ausdruck gebracht, die Anwendung des Rechts sei Sache des Gerichts, die Parteien könnten sich darauf beschränken, dem Gericht den Sachverhalt zu unterbreiten, Ausführungen zum Recht seien nicht erforderlich. Die Praxis stellt mit der aktuellen Anwendung von Art. 55 ZPO sehr hohe Ansprüche an den Detaillierungsgrad der Sachverhaltsdarstellung in einer Klage. Die Aufgabe der klägerischen Partei: da mihi factum, oder eben: Die Parteien haben dem Gericht die Tatsachen, auf die sie ihre Begehren stützen, darzulegen, wird damit bisweilen massiv erschwert oder gar illusorisch. Die bundesgerichtliche Formel, wonach es genügt, wenn die Tatsache in einer den Gewohnheiten des Lebens entsprechenden Weise in ihren wesentlichen Zügen und Umrissen behauptet worden ist, [1] mag für einfache Sachverhalte gängig sein. Bei komplexen technischen Zusammenhängen, insbesondere bei Fragen des Kausalzusammenhanges, versagt sie jedoch. Hier wird in der heutigen Praxis jedes einzelne Element des Kausalzusammenhanges zu einer eigenständigen Tatsache, welche für sich behauptet, substantiiert und bewiesen werden muss. Fehlt nach Ansicht des Richters die Substantiierung auch nur eines Elementes der Argumentenkette (Kausalkette), greifen die daherigen Folgen. Was das bedeutet, soll anhand von Beispielen aus der Praxis aufgezeigt werden.

Werkvertrag 1

Weil der Generalplaner in einer Submission ein für die vorgesehene Applikation nicht taugliches Gerät beschaffte, entstanden erhebliche Bauverzögerungen. Neben dem Ausbau des Gerätes erfolgte ein weitgehender Rückbau des für die Applikation bestimmten Raumes, da dieser spezifischen Anforderungen (Reinraum) zu genügen hatte und Gerät wie auch Raum zertifiziert werden mussten. Der Rückbau des Raumes wiederum hatte Auswirkungen auf den gesamten Bauablauf, mithin auf den Terminplan für das gesamte Bauvorhaben und damit auf die Kosten auch von Bauteilen, welche keinen direkten Zusammenhang mit dem fraglichen Gerät aufwiesen.

Nun versteht sich von selbst, dass zu einem schlüssigen Vortrag eine Darstellung der baulichen Abläufe im Einzelnen gehört. Hier aber wurde der courant normal verlassen und Bauherr und Bauleitung mussten notfallmässig eingreifen. Jede Entscheidung von Bauherr und Bauleitung hat in dieser Situation Auswirkungen auf Kosten und Terminplan und kann hinterfragt werden. Kaum eine Entscheidung ist alternativlos, jede basiert auf einer Evaluation von Vor- und Nachteilen. Wird z.B. eine erneute Submission durchgeführt, erfolgt dies deshalb, weil im anderen Fall der Lieferant des untauglichen Gerätes die Beschaffung mittels Beschwerde verzögern könnte. Welches Vorgehen führt zu längerer Verzögerung: Widerruf des Zuschlags und Wahl des zweitrangierten Bewerbers oder Neuausschreibung? Ist ein Notdach wirklich notwendig oder könnte nicht eine Beschleunigung der Arbeiten mit anderen Mitteln tiefere Mehrkosten ermöglichen? Dabei handelt es sich immer um Abwägungen, letztlich also um hypothetische Betrachtungen von Eventualitäten. Dennoch ist jedes einzelne Glied in der Kausalkette zu behaupten, zu substantiieren und schliesslich zu beweisen. Das bedeutet, jeder Beschluss von Bauherr und Bauleitung ist im Detail abzuhandeln mit Behauptung, Darstellung der Gründe und damit verbunden aller Eventualitäten und deren Folgen. Schliesslich sind (auch für alle Eventualitäten) die Beweismittel zu nennen. Erhebt aber die beklagte Partei im zweiten Schriftenwechsel neue Einwände, zu welchen der Kläger zuvor weder Tatsachenbehauptungen aufgestellt noch Stellung genommen hat, riskiert die Klage, an der fehlenden Substantiierung zu scheitern, da nach durchgeführtem zweitem Schriftenwechsel neue Vorbringen nicht mehr zulässig sind. Anwälte sind zwar kreativ, aber sie sind keine Hellseher. Längst nicht alle möglichen Einwände findiger (Gegen-)Anwälte sind vorhersehbar. Daher ist auch die ausführlichste Sachverhaltsdarstellung in einem solchen Fall kaum je mit abschliessender Gewissheit hinreichend substantiierbar im Sinne der Praxis. Das macht die Prozessführung für die Parteien ziemlich risikoreich.

Werkvertrag 2

Zwei Unternehmer verursachen Mängel im Aufbau des Bodens von Wohnungen. In einer Neubausiedlung müssen hierauf bis zu 90 Wohnungen nachgebessert werden. Während der Parkettleger falschen Leim verwendet, mangelhafte Verlegearbeit leistet und teilweise falsches Parkett einbaut, verdichtet der Ersteller des Unterlagsbodens den Estrich zu wenig, womit dessen Festigkeit nicht gewährleistet ist. Fazit: Wird das Parkett ausgebrochen, klebt teilweise der halbe Unterlagsboden am Parkett. Teilweise wird der ganze Bodenaufbau inkl. Bodenheizung neu erstellt, Bewohner müssen ihre Wohnung vorübergehend verlassen. Als Ersatz werden einzelne Wohnungen in der Siedlung freigehalten. Weil die Unternehmer auch in der Nachbesserung pfuschen, muss teilweise mehrfach nachgebessert werden.

Für Bauleitung und Liegenschaftsverwaltung entsteht enormer Aufwand. Die Unternehmer halten auch in der Nachbesserungsphase Termine nicht ein. Neben den Baukosten fallen Honorare für Bauleitung, Verwaltung, Experten und Anwalt an. Zudem entgeht dem Bauherrn Gewinn durch das Freihalten von Wohnungen. Die Drittkosten sind mehrheitlich dokumentiert durch Rechnungen und Rapporte.

Eine Ausgangslage mit zwei nicht solidarisch haftenden Unternehmern gestaltet sich komplex. Aufwand und Dokumentation nehmen exorbitante Ausmasse an. Hier haben pro Wohnung ein Dutzend Rechnungen à durchschnittlich 10 Positionen vorgelegen, dazu im Schnitt drei Rapporte à 10 Einträge pro Rechnung. Das ergibt bei 90 Wohnungen 43 200 ggf. erläuterungsbedürftige Positionen, allein zur Substantiierung der Kostenfolgen. Ein Verweis auf Rechnungen und Rapporte ist praxisgemäss nur ausnahmsweise zulässig. Ein Augenschein in ausgewählten Wohnungen in Kombination mit den Abrechnungsdossiers der Wohnungen hätte es dem Gericht erlaubt, sich ein Urteil zu bilden. Die Substantiierungslast verlangt aber, dass jede Einzelheit behauptet und im Detail dargelegt, eben substantiiert wird. Daher wäre ein Verweis auf Rechnungen und Rapporte in Kombination mit dem Antrag, es sei ein Augenschein durchzuführen, nicht ausreichend gewesen. Wenn nun aber jeder Eintrag auf jedem Rapport und jede Position auf jeder Rechnung noch zusätzlich erläutert werden müssen, entsteht rasch ein literarisches Werk von 1000 Seiten Umfang und mehr.

Auch hier ist bei jedem Beschluss von Bauherrschaft und Bauleitung der Ermessensspielraum zu beleuchten und auch hier gilt es, möglichen Einwänden der Gegenparteien proaktiv zu begegnen. Alles in allem bedeutet dies einen Aufwand von Monaten zur Erarbeitung einer Klageschrift, soweit eine Aufarbeitung im Nachhinein überhaupt noch möglich ist. Vermeiden lässt sich dieser Aufwand nicht, soll Klage erhoben werden, denn bei der Substantiierungspflicht geht es um alles oder nichts.

Die anwaltliche Unterstützung wurde in diesem Schadenfall zwar rechtzeitig beigezogen. Jedoch müsste das juristische Know-how praktisch in die Projektleitung eingebaut werden, damit bereits während der Nachbesserung jeder Schritt beweiskräftig dokumentiert und zu jeder Rechnung zeitnah ein Kommentar verfasst und quasi ein juristisch strukturiertes Baujournal geführt werden kann. Damit wächst der Aufwand frankenmässig ins Unermessliche. Zudem setzt dies voraus, dass jeder Schritt von Planer, Bauleitung und Unternehmer auch tatsächlich mit dem Anwalt abgesprochen wird, was schon in organisatorischer und zeitlicher Hinsicht nicht einfach ist und bei dringlichen Entscheiden scheitern kann. Zuweilen wird dadurch auch die Geduld der Bauleute strapaziert. Solche Prozesse sind in logistischer Hinsicht kaum zu führen. Zumindest müsste versucht werden, die Abwicklung der Nachbesserung zu strukturieren und einzelne Abrechnungseinheiten, hier z.B. die einzelne Wohnung, zu definieren, die Rechnung pro Einheit abzuschliessen und jeweils der Gegenseite zur Genehmigung, mindestens aber zur Kenntnisnahme zuzustellen. Angesichts der endlosen Vielzahl an zu dokumentierenden Abläufen wurde in diesem Schadenfall schliesslich auf die Klageeinreichung verzichtet.

Vermögensverwaltung, Auftrag

Ein Geschäftsmann hatte seiner Bank ein Vermögen in der Höhe von USD 7 299 498.15 zur Verwaltung anvertraut. Die Bank legte das Vermögen teilweise entsprechend dem Verwaltungsvertrag an. Teilweise holte sie jedoch – vertragskonform – Anlageentscheide des Kunden ein. Die Beziehung zwischen Kunde und Bank wies somit Elemente des Verwaltungs- wie auch des Beratungsmandates auf. Die Bank nahm indessen Transaktionen vor, die nicht durch das Verwaltungsmandat gedeckt waren, ohne die Zustimmung des Kunden einzuholen. Dabei legte die Mitarbeiterin gefälschte Auszüge vor. Das Depot wies schliesslich einen Stand von USD 1 804 907.00 auf. Der Kunde klagte vor Handelsgericht Zürich einen Schaden von USD 6 373 486.99 ein und erhielt Ersatz in der Höhe von USD 5 670 090.00 zugesprochen. Das Bundesgericht hob das Urteil auf mit der Begründung, der Schaden sei nicht hinreichend substantiiert worden, und wies die Klage endgültig ab (Urteil 4A_586/2017 vom 16. April 2018).

Nach Ansicht des Bundesgerichts hätte der Geschädigte für jede der vertragswidrig vorgenommenen Transaktionen eine eigenständige Berechnung vornehmen müssen: Die Schadensberechnung [beschränkt sich] auf die Ermittlung der Differenz zwischen dem tatsächlichen Wert der einzelnen pflichtwidrigen Anlagen und dem hypothetischen Wert, den das konkret pflichtwidrig investierte Kapital bei vertragskonformer Anlage hätte (Urteil 4A_586/2017, Erw. 2.2.2). Während das Zürcher Handelsgericht das Portfolio insgesamt einem Vergleich mit dem hypothetischen Verlauf eines Referenzportfolios unterzog und so den Schaden schätzte, befand das Bundesgericht, der Kläger hätte den Schaden nicht ausreichend anhand der einzelnen, vertragswidrig ausgeführten Transaktionen substantiiert. Daher wurde seine Klage abgewiesen. Eine Rückweisung an die Vorinstanz ist unterblieben, obwohl anscheinend eine Schätzung nach den Vorgaben des Bundesgerichts anhand der Akten möglich gewesen wäre.

Forderungsstreitigkeit, Honorar

Wer als Arzt, Architekt, Ingenieur, Anwalt oder aus einer anderen Beratertätigkeit Honorar einfordert, hat zunächst die üblichen Voraussetzungen wie Vertragsabschluss und Erfüllung darzutun. Sodann ist die Höhe des Anspruchs zu substantiieren. Es gilt auch hier der Grundsatz, dass eine Rechnung für sich allein nur dann schlüssig ist und dem Substantiierungsgebot genügt, wenn sie auf alle 7 Ws eine Antwort gibt (wer/wann/wo/was/wie/wie viel und warum). Allein die Frage nach dem Warum dürfte in der Regel kaum aus der Rechnung oder aus allgemeinen Aufzeichnungen zu beantworten sein. Hier sind zusätzliche Erläuterungen am Platz. Zudem müssen Angaben zu den einzelnen Leistungen gemacht werden, damit Zweck, Ausmass und Gegenstand der Leistung klar werden.

Ein geradezu unüberwindbares Minenfeld präsentiert sich aber für den Fall des Widerrufs des Auftrags zur Unzeit. Es ist nicht vorhersehbar, nach welcher Methode das Bundesgericht in einem konkreten Fall den Ersatzanspruch des Auftragnehmers berechnen würde. Wie aber soll dann eine Partei im Streitfall argumentieren? Welche Sachverhaltselemente müssen zwingend zu Beginn des Verfahrens vorgebracht werden, damit dieses nicht wie im Vermögensverwaltungsfall am Substantiierungshindernis scheitert? Bekanntlich präsentiert sich jeder Fall, jeder Sachverhalt wieder anders.

Übertriebene Anforderungen?

Die Substantiierungslast zwingt die klagende Partei zu weitläufigen Ausführungen in der Klageschrift. Der Vollständigkeit halber sei vermerkt, dass auch die beklagte Partei substantiiert bestreiten muss, mithin nicht wie früher einfach pauschal bestreiten kann. Substantiieren heisst gemäss Handelsgericht nicht notwendigerweise ausführlich, sondern «nur» konkret und nachvollziehbar argumentieren und Selbstverständliches und allgemein Übliches braucht nicht behauptet zu werden.[2] Bloss, was heisst das im Einzelfall? Was darf als dem angerufenen Gericht natürlicherweise bekannt und selbstverständlich vorausgesetzt werden? Nicht alles, was den Parteien und Anwälten geläufig und üblich erscheint, ist es für das Gericht auch. Daher behauptet und argumentiert im Zweifelsfall dennoch ausführlich, wer nicht über die Substantiierungslast stolpern will. Das hat Konsequenzen bezüglich des Umfangs von Prozessakten, der grosse Reisekoffer ist ständiger Begleiter des Anwalts vor Gericht.

Darüber hinaus strapaziert die so verstandene Substantiierungslast die anwaltliche Arbeit und damit das Portemonnaie des Klienten ganz erheblich. Bis der Streitfall in allen seinen Einzelheiten konkret und nachvollziehbar präsentiert werden kann, bis eine Kausalkette in alle Einzelaspekte zerlegt, verständlich, schlüssig und belegt vorgetragen werden kann, bedarf es intensiver Abklärung und Aufarbeitung von Sachverhalten. Danach kann das Gericht quasi nur noch anhand einer Checkliste abhaken, ob alle notwendigen Elemente in substantiierter Weise in den Prozess eingebracht wurden. Ist dies der Fall, fragt sich, was dann überhaupt noch bewiesen werden muss. Ist dies dagegen nicht der Fall, unterbleibt das Beweisverfahren mangels hinreichender Substantiierung ohnehin. Damit schieben die Gerichte die «Last» sehr weitgehend auf die Parteien ab, womit sich diese zweimal überlegen müssen, ob sie den Prozess überhaupt zu finanzieren vermögen.

Schliesslich ist die höchstrichterliche Praxis alles andere als immer klar und konsistent. Hängt aber von dieser Praxis ab, wie ein Anspruch substantiiert werden muss (s. beispielsweise die Schadensberechnung im Vermögensverwaltungsfall), werden die Parteien schlicht im Regen stehen gelassen, wenn eine Praxis entweder nicht besteht, geändert wird oder unklar ist. Hier wird die Substantiierungslast zur unfairen Waffe, da den Parteien keine Möglichkeit zur Abschätzung der Prozesschancen offensteht.

Der Zivilprozess wird so zum Glücksspiel.

Fussnoten

  1. BGE 136 III 322 E. 3.4.2.

  2. Dr. Christian Josi, Handelsgerichtspräsident, Weiterbildungskurs für Juristen (BWJ), 12.04.2018.

Artikel speichern

pdf (54 KB)

Artikel teilen

Share